Barbara Thalheim - Und eines Wintermorgens läßt sie sich fallen lyrics

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Barbara Thalheim - Und eines Wintermorgens läßt sie sich fallen lyrics

Spoken prose: Und eines Wintermorgens, zehn nach neun, lässt sie sich fallen. Um acht hätte sie im Büro sein müssen. Aber es ist zehn nach neun und sie lässt sich fallen. Es ist genug! Sie ist jeden Tag ins Büro gegangen und hat dafür Geld bekommen, mit dem sie leben konnte. Ins Büro zu kommen war notwendig, wenn man Geld haben wollte, aber es fiel nie jemanden auf, wenn sie dort war und nicht arbeitete. Sie wusste nicht, ob die Anderen im Büro arbeiteten, oder, ob sie simulierten und ob sie es noch wussten, wenn sie simulierten. Von sich glaubte sie, da** sie eine Scheinexistenz führe. Sie war da, aber es genügte, da** eine Äußerlichkeit da war, eine Hülle. Sie kannte einen Mann. Neben diesem Mann lebte sie – für diesen Mann war sie da wie für ihr Büro. Man lässt sich einmal darauf ein und ist für immer verstrickt. Der Mann gab ihr Geschenke – Gegenstände, die sie in Schränke und Regalbretter legen konnte. Das Zusammenleben mit ihm war freudlos, aber er war gut. Er öffnete seinen Arm, sie konnte sich hineinlegen und dann kam die Nacht. Als sie sagte, da** sie sich trennen wollte, verlor er sich anscheinend ganz und als sie sich korrigierte, da** sie sich eigentlich nicht von ihm, sondern von allem trennen wollte, öffnete er wieder seine Arme und dann kam die Nacht. Am Morgen klingelte kein Wecker. Sie erwachten kaum später als an anderen Tagen, aber, anders als an anderen Tagen, ließen sie sich Zeit. Sie hatten Hunger und Durst. Sie aßen und tranken und als die Kanne leergetrunken war, kochten sie ein zweites Mal – beide wollten es. Sie gingen hinaus, da fiel der Schnee. Er fiel sanft und legte sich vorsichtig auf die Erde, wo er sich, früher oder später, auflösen würde. Sie wusste nicht, ob er wusste, was sie wollte – sie wusste es selbst nicht. Es ist zehn nach neun, als sie sich fallen lässt – und der Mann, er springt – er scheint sich selbst zu stoßen. Sie wissen nicht, das es zehn nach neun ist, sie haben nur gewartet, bis der gelbe Zug nahe genug herangekommen ist. An ihr fuhren die Räder vorbei. Sie weiß nicht, wie viel Jahre vergangen sind. Jedenfalls erinnerte sie sich des Mannes – oder ist er eine Einbildung gewesen? Wo sie nun lebt, ist es eng, dunkel und niedrig. Sie tastet mit den Händen, die erkennen den Mantel des Mannes, aber der Mann ist ein anderer geworden, ein Lebloser. Da ist es auch feucht von einer Flüssigkeit, die unheimlich ist, aber bekannt. Sie muss lange liegen neben dem Mann. Später sagte man ihr, da** sie geschrien und zwischen den Schreien lange geschwiegen habe, da** man immer gedacht habe, sie sei tot. Sie erzählt, da** das Licht im U-Bahnhof so sehr dem Licht der Träume geglichen habe, da** sie meinte, man könne sich fallen la**en und würde wieder aufwachen – wie nach den Träumen auch. Und der Mann, sagen sie, der Mann wacht nicht wieder auf – der ist tot. "Er hat die Ähnlichkeit des Lichts nicht bemerkt!", denkt sie, "Er war nicht so, da** er so feine Gleichheiten hätte bemerken können!" "Ach", sagt sie, "wie war ich erschrocken – wie war's so dunkel in dem Wolf seinem Leib!" Ins Büro geht sie nie mehr. Eine Kollegin sagt später mal über diesen Vorfall: "Sie hätte ja Solidarität üben können! Sie hätte sich ja für den Sozialismus einsetzen können! Sie hätte für den Frieden kämpfen können und sie hätte den Menschen etwas Schönes geben können!" Aber sie wusste nicht wie – sie wusste echt nicht wie! Alles was sie machte, es war immer da**elbe! Alles lief darauf hinaus, ins Büro zu gehen – in die Scheinexistenz. Sich in seine Arme zu legen – und dann kam die Nacht! Alles lief darauf hinaus, da** sie nichts in den Händen hatte Nur das Geld für einen Monat – Das Geld, mit dem sie zusammenlebte! Sie brauchten sich, das Geld und sie, sonst brauchte sie niemanden – Sonst brauchte keiner sie – nur das Geld! Sie konnte ihm nicht entrinnen! Da ließ sie sich fallen – Eines Wintermorgens zehn nach neun...

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