Graffiti on Trains, Walls and Girls.
Graffiti auf den drei Säulen männlicher Macht:
Maschinen, Bauwerke und Frauen.
Oder: Auto, Heim und Heimchen.
Konsole, Couch und Liefer-Service.
Fussball, Kneipe, Prostitution usw.
Hostmoderne Männerphantasien sind nicht üppig und bemerkenswert gefühlsarm, gerade deshalb aber seit jeher äußerst beharrlich und dominant; und sämtlich von annektierendem Charakter. Nach Theweleit kommt männliches Begehren in konkreter und psychischer Landnahme zum Ausdruck. Wir leben gar in einem beschleunigten kolonialen Zeitalter. Allerorten wird wie irre um Land gekämpft, Land eingenommen, Land ausgenommen, besiedelt, beackert und bebaut. Postkolonialismus ist ein wissenschaftlicher Irrsinn. Landtaking-Acts are daily Top-News!
Doch kein Ort nirgends
Wie lässt sich die männliche Landnahme-Lust befriedigen, wenn jedweder Winkel der Welt bereits besprungen, besungen und begoogelt ist? Indem Mann die altbekannten Orte neu bespielt. Diesmal flüchtig und unbemerkt, schnell rein und wieder raus (sic!), ganz ohne Feindkontakt und Stellungskrieg, ohne Ma**engrab, Vergewaltigung und Plünderung. Aneignung ohne jedwede Enteignung. Und dennoch ein Stück Land auf der körperinternen Karte erkundet, erobert, und vermessen; ein neues Hektar psychogeographische Gefühlslandschaft freigelegt. Die Ausweitung innerer Kampfzonen ohne Verluste im Außen: für eine kaum spürbare Empfindung, für das geringste Gefühl (eine Träne, Liebe, Mitgefühl) müssen virile Adoleszenten noch immer hart arbeiten, viele Welten retten, zerstören, wieder aufbauen, angreifen, retten, zerstören usf.
“Die symbolische Handlung als ultimative Tat“
Graffiti-Boys sind ziemlich gut darin! Wie junge Feldherren üben sie sich heimlich in symbolischen Landraub und symbolischer Kriegsführung. Ob Raub, Mord, Vergewaltigung oder Vertreibung: männliche Kriegsverbrechen werden hier kulturell transformiert und im Verborgenen der Stadt en detail nachgespielt. Jeder neue Tunnel, jede weitere Neulandgewinnung verändert die biochemischen und physiologischen Eigenschaften der männlichen Körper und ihres Unbewußten. Ihre neuronalen Netze verbinden sich direkt mit dem Strecken- und Straßennetz der Stadt. Unzählige Nervenbahnen werden wie U-Bahnen oder Autobahnen neu verlegt und ausgebaut. Oder gleich komplett nachgebaut: vor dem Künstlerhaus Bethanien in Berlin Kreuzberg haben Graffiti-Sprüher 2005 eine zusammengezimmerte Kleinstadt errichtet; mit Häusern aus Buchstaben und natürlich mit selbstgebauter U-Bahn. Ein ephemerer, symbolischer Ort: die 'City of Names'.
Im Sog der Umgebung
(halb sog sie ihn, halb sank er hin)
Auf zur Gelände-Jagd! Er schleicht über fremdes Terrain, entert und betritt Neuland. Er scannt das gesamte Gebiet plus Fetisch-Objekte: Züge, Wände, Hidden Places. Der Körper unseres Landmannes setzt zum Sprung an, hinein aufs freie Feld der Eroberung. Die Landgewinnung im Außen verändert unmittelbar die Topographie seines Gehirns (Plastizität), die innere Landschaft und seine Männlichkeit.
Into the Shoot: Topologie der Totale
Die Fotografie bestimmt maßgeblich das gesamte Prozedere. Der digitale Zoom-In belichtet den Petite Mort der Entäußerung des Körpers hinein in das technologische Auge, des Subjekts in das Objektiv (Aufnahme-Technik). In der Linse bündelt sich die obsessive Lust am stets gleichen Motiv der Symbiose des Mannesinneren mit dem Landesäußeren (plus h*moerotischer Verbrüderung: Body im Buddyland). Die enorme Symbolkraft der Bilder wirkt auf das Verhalten der Sprüher zurück. Mediale Bildproduktion ist ein Selbstzweck, die realen Graffiti an der Wand bald obsolet.
The Day After
Die Inszenierung kommt ans Licht: polymorphe Farbcodes zeugen allerorten vom nächtlichen Reigen. Graffiti legt sich in feinen Netzen über eine Gesellschaft, die sich nicht länger trotzig darin verheddert: Hintergrundrauschen in einer kommerziell wie visuell ohnehin überladenen, psychotischen Metropolenwelt.
Style- und Sex Talk
Sprühende Gangs und Crews sprengen sich ihren Weg durch die Syntax der Stadt und hinterla**en allerorten leuchtende Letter, Real-Life-Prints und Comicgebläse. Ihre Styles fungieren als Grenz-, Sprach- und Resonanzkörper, wirken als Speichermedium und Ort der Erinnerung (Entgrenzte Flächen, Wucherung, Drama). Die ungestümen Pseudonyme zeigen eine abstrakte Illustration des chaotischen Inneren sich entfaltender Männlichkeit. Jeder neue Style ist der Versuch, die männlichen Gefühle während der laufenden Landnahme (r)auszudrücken und unmittelbar in eine polymorphe Struktur zu gießen, die der gewonnenen Landschaft entspricht. Über das Flachland der verqueren Zeichen wird on- und offline kommentiert, philosophiert und geprotzt. Viele Maler haben endlich zu sprechen begonnen. Sie lästern, plaudern, fluchen und zaudern. Anonym zwar und unbeholfen, aber es ist ein Anfang. Ihr Landräuber-Sprech, die harte Sprache ihrer Lüste und Launen erzählt von Himmelreich-Hoffnungen (Paradies) und p**nland-Phantasien.
Frauenkörper
Begehrtes Objekt par excellence. Graffiti on Girls, Style-Shots vs. Cum-Shots, Trainwriting vs. p**nRiding: die kulturelle Transformation des Penetrationsaktes gilt weithin als abgeschlossen. Die performative Bedeutung des Sprühens und Spritzens, des Pinselns, Rollens und Kratzens erleben die Writer als erlösendes Moment (Action-Painting). Erlösung im Zugriff. Erlösung in der verbotenen Tat. Der männliche Körper zwischen größter Anspannung und kontrollierter Entladung verhält sich pa**iv explosiv. Addicted to Graff im Dauer-Loop: darauf kann Mann hängenbleiben. Die Graff-Shops werden von Mutti geführt.
Show-Realität
Die Menge der Inszenierungen bestimmter “Atmosphären“.
“Ich war hier!“ wurde zum medialisierten “Been there, done that!“ Vor dem gesprühten Werk üben sich die Performing Kids als Show-Master (Train Trophies und Winner-Show-Offs). Die einladenden Gesten, Graffiti und Körpertänze der siegreichen Gastgeber (Hosts) motivieren Boys in aller Welt. Performing = Hosting: Kolonialisierung stellt künftig ein Angebot dar, ein unterhaltsames Adoleszenz-Paket aus High-Tech, Suspense und Action. Einzig die nächtliche Geheimidentität läuft asynchron zum Biorhythmus, fortwährende Jagd und Erschöpfung dem 'normalen' Leben der Graffiteros zu wider. Doppel- und Parallelleben sind ein Spiel auf Zeit.
MMOffRPG
(Ma**ively Multiplayer Offline Role-Playing Game)
Das Graff-Game vermengt sich gern mit anderen Spielen fremder Landlords auf fremdem Terrain (Fussball-Graff, Ego-Shooter-Background-Graff, Skate- und Funpark-Graff etc.). Industrie und Wirtschaft sponsern internationale Graffiti-Battles und -Festivals, benennen Sprühfarben nach namhaften Malern oder la**en sich eine Sonder-Edition Sneaker gestalten. Polizei, Buffer, Richter und Gesetzgeber treten nicht länger als Gegner ins Feld, sondern als Mitspieler. Sie sind in die Väter-Rolle hineingewachsen: weniger bestrafend, verständnis- und liebevoll, gar fördernd. Sieg und Emotion: beide Seiten kämpfen um jeden Mann und inszenieren sich als Meute. Später bilden sich j**eils nostalgische Old-Boys-Netzwerke heraus.
Twentyfour / Seven
Die kla**ische Writer-Karriere ist heute eine unter Vielen. Sie beginnt mit einem allgemeinen Medientraining und schließt mit der Professionalisierung bestimmter 'Sk**s' wie Illustration, Grafikdesign, Fotografie, Kunst, PR, Informatik, Audio, Video, Wissenschaft, Technik u.v.m. Als berufsbegleitendes 'Hobby' wird das opponierende Graffiti-Moment dann endgültig aufgegeben. Oder weitergegeben an die Söhne: aus freien Radikalen und Kolonisten werden treusorgende Väter und Berufstätige.
Eindringlinge (Penetrators)
Die Künstler unter den Berliner Malern wechseln aus der Graffiti- direkt in die Galerie- Szene oder an die Kunsthochschule. Es ist bemerkenswert, da** sie allesamt das Sprühen aufgeben und sich in ihren Werken ausschließlich der Landnahme verschreiben. Das Big Sexy Land der Graffiti-City wird hier systematisch ausgeweitet und konzeptualisiert, es wird entjungfert (Deflower Hidden Places), erobert (Making Space Taking Place), kartiert (Invisible Cities), verspekuliert (ZASD Real Estate), bewirtschaftet (Morphogenetic Field Device) und bespielt (Spontaneous Sculptures). Die authentische Performance im Öffentlichen Raum legitimiert die Indoor-Vernissage, den Open Space oder das Urban-Hacking-Seminar: das exzessive Repetitiv der Kunst- und Projektarbeit goutiert das raumgreifende Ritual im ehemaligen Panic Land Graffiti. Die hostkolonialen Strategien der 'Sub'-Kultur antizipieren die Konzeptionen ökonomischer Landnahme im expansiven Kapitalismus. Das Graffitileben als Training für das Berufsleben wird hier zur Karriere-Übung. Und wieder wird versucht, den Außenraum im Innenraum nachzubauen und erfahrbar zu machen. Die Künstler arbeiten als Innenausstatter von Gallerien, White Cubes und Show-Rooms. Ihre Präsentationen, Installationen und Performances produzieren Authentizität als Projektion städtischer Räume. Der Planet Prozess prägt die CV- und Ranglisten der 'Artists' fortan als exzessiver Room- und Body Count.
Christoph May / Leipzig, 2014